Ende eines Polizisten-Traums

Polizeiskandal in Augsburg: Ein MEK-Beamter wird wegen Bestechlichkeit verhaftet und eingesperrt; der Staatsanwalt lässt ihn  wissen, er komme erst wieder frei, wenn er den Polizeidienst quittiere. In seiner Verzweiflung reicht der Mann sein Entlassungsgesuch ein, und tatsächlich wird er später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Doch dann kommt, durch puren Zufall, heraus: Der Beamte war unschuldig. Die Polizeibehörde hatte Unterlagen, die ihn entlasteten, jahrelang unter Verschluss gehalten. Und nun?

Augsburg. Manfred D. war 26 Jahre alt, als sich sein beruflicher Traum erfüllte: Er wurde in das Mobile Einsatzkommando (MEK) Augsburg aufgenommen, in diese Spezialeinheit top-ausgerüsteter Polizeibeamten, die bei komplizierten Observationen und riskanten Zugriffen angefordert werden.

Manfred D. war 54 Jahre alt, und er hatte sich längst bundesweit als Experte für Funktechnik einen Namen gemacht, als sein Traum jäh endete: Es war der 24. April 2007, morgens kurz vor zehn Uhr, als ein Staatsanwalt und vier Kriminalbeamte an seiner Haustür klingelten. Sie zeigten einen Durchsuchungsbeschluss: „Vorteilsnahme“ sei der Grund, sagten sie, reines Juristendeutsch, sie meinten, dass er sich im Dienst habe bestechen lassen. Sie beschlagnahmten seinen Siemens-Laptop, eine externe Festplatte und ein paar Papiere, dann nahmen sie ihn mit in Polizeipräsidium an der Gögginger Straße und vernahmen ihn stundenlang. Am späten Nachmittag wurde er zum Amtsgericht rübergebracht, wo ein Richter den Haftbefehl unterzeichnete. Aktenzeichen 1 Gs 494/07: „Untersuchungshaft wird angeordnet“ stand da drin, wegen Fluchtgefahr und weil mit einer „empfindlichen Freiheitsstrafe“ zu rechnen sei.

Die folgende Nacht und auch die nächsten verbrachte der Polizeioberkommissar in einer Zwei-Mann-Zelle in der Untersuchungshaftanstalt an der Karmelitengasse. „Wir halten unseren Stall sauber“, habe ihn der Staatsanwalt angeraunzt haben, sagt Manfred D. heute. „Sie kommen hier erst wieder raus, wenn sie den Polizeidienst quittiert haben“, habe der Staatsanwalt auch gesagt. Zwei Wochen hielt Manfred D. durch. Dann gab er auf und beantragte seine Entlassung aus dem Staatsdienst. Anderntags war er wieder auf freien Fuß, gegen Auflagen selbstverständlich.

Heute ist er ein gebrochener Mann. Ohne Job. Statt Pension kriegt er nur eine magere Rente. Er ist häufig krank, schlägt sich so durch, will aber jetzt noch einmal kämpfen: Er klagt jetzt vor dem Landgericht Augsburg auf Schadensersatz. Denn inzwischen steht fest: Schon als er verhaftet wurde, hatte die Augsburger Polizei Kenntnis davon, dass ihm strafrechtlich nichts vorzuwerfen war. Im Polizeipräsidium lag damals ein dicker Ordner, 237 Seiten stark: Die Unterlagen bewiesen, dass dem Vorwurf strafbaren Handelns entscheidende und wichtige Grundlagen fehlte.

Den Ordner aber hielt die Augsburger Polizei jahrelang unter Verschluss. So kam es, dass im ersten Prozess im Jahr 2011 ein Amtsrichter den Ex-Polizisten zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilte. Auch der mitangeklagte Unternehmer aus Hessen, der den Beamten bestochen haben sollte, bekam eine Bewährungsstrafe, seine Frau wurde zu 12.000 Euro Strafe verurteilt.

2012 begann das Berufungsverfahren vorm Landgericht Augsburg. Hier kam nur durch puren Zufall der Polizei-Ordner mit den entlastenden Dokumenten auf den Tisch. Angesichts der neuen Faktenlage war der Prozess schon am nächsten Vormittag zu Ende: „Die Angeklagten waren aus tatsächlichen Gründen freizusprechen“, heißt es lapidar in der Urteilsbegründung (Az 101 Js 106158/07).

Aber da war’s längst zu spät. Manfred D. war gebrandmarkt. Er war Ende 50. Und völlig am Ende.

Unklar ist bis heute, warum die Augsburger Polizei über all die Jahre die entlastenden Unterlagen zurückgehalten hat. War es Vorsatz? Oder Schlamperei im Amt? Klar ist bis heute nur: Der Fall Manfred D. steht für polizeibehördliches Versagen mit katastrophalen menschlichen Folgen.

Rückblick: Ende 2006 ging eine anonyme Anzeige beim Finanzamt Augsburg ein. Mit detaillierter Sachkenntnis wurde darin geschildert, dass ein hessisches Unternehmen für Sicherheitstechnik seit Jahren die Augsburger Polizei beliefere. Dass sich der Technik-Experte des MEK, Manfred D., mit dem Firmenchef angefreundet habe. Und dass der Beamte im Jahre 2003 von dem Unternehmer eine Bankbürgschaft über 80.000 Euro erhalten habe, woraufhin er sich ein Häuschen in Südafrika habe kaufen können.

Eine Ex-Freundin von Manfred D., das weiß man heute, hatte den anonymen Brief aus Rache geschrieben, aber das ist ohne weitere Bedeutung. Damals leitete das Finanzamt die Informationen an die Staatsanwaltschaft Augsburg weiter, die wiederum schrieb den Polizeichef („persönlich“) an und bat um Vorermittlungen. Geschäftszeichen 502 AR 4308/06: In der Gögginger Straße nahm sich Kriminalhauptkommissar Georg E. des Falls an, ein interner Ermittler, der in der Augsburger Polizei einen Ruf wie Donnerhall genießt.

Es war alles unstrittig und recht schnell geklärt: Der Unternehmer in Hessen belieferte die bayerische Polizei tatsächlich seit Jahrzehnten. Manfred D. hatte immer wieder mal mit ihm zu tun, allerdings ausschließlich zur Abstimmung technischer Details. Beide Männer teilten eine Leidenschaft für Südafrika, so kam man ins Gespräch, so entstand wohl auch eine Freundschaft, das war in der Behörde gar kein Geheimnis.

Während eines Kapstadt-Urlaubs entdeckte Manfred D. eine kleine Immobilie, die er sich als Altersruhesitz vorstellen konnte. Sie war jedoch für ihn unerschwinglich, weil sein Haus in Augsburg noch nicht abbezahlt war. Da bot ihm sein Unternehmer-Freund eine Bürgschaft an, dann würde die Bank vielleicht einen Kredit geben…

So wurde der Deal gemacht, alles klar und sauber geregelt, kein Gemauschel, nichts unter der Hand: Die Bank gewährte den Kredit, der Unternehmer ließ sich als Sicherheit ins Grundbuch des Augsburger Hauses eintragen, und Manfred D. kaufte sich die Parzelle in Südafrika.

Das war, wie gesagt, im Jahr 2003. Zu jener Zeit hatte Manfred D. das MEK bereits verlassen, er war in die technische Abteilung der Verkehrsbehörde gewechselt. Er hatte überhaupt keinerlei berufliche Berührungspunkte mehr mit der hessischen Firma. War die Gewährung einer Bankbürgschaft dennoch als Akt der Bestechlichkeit zu werten?

Ende 2006, gleich nach der anonymen Anzeige, begannen die Ermittler im Polizeipräsidium nachzuforschen, sie befragten Kollegen, werteten Geschäftsunterlagen aus, sichteten Konten. Im Februar 2007 eröffnete der Staatsanwalt offiziell das Ermittlungsverfahren, im März wurde der Haftbefehl unterzeichnet – Manfred D. wusste zu dieser Zeit von alledem gar nichts, er war völlig ahnungslos, bis sie im April bei ihm klingelten.

Im Knast hielt er es gut zwei Wochen aus. Dann unterschrieb er seinen Entlassungsantrag. Ein Facharzt für Psychiatrie an der Universitätsklinik Tübingen bescheinigte ihm später in einem Gutachten einen „psychischen Ausnahmezustand“, eine „akute Belastung“, eine „depressiven Symptomatik“.„Mein Entlassungsantrag war eine reine Verzweiflungstat“, sagt Manfred D. heute. „Ich konnte nicht mehr, hatte mich völlig aufgegeben.“

In Freiheit, allerdings ohne Job, keine Perspektiven mehr, dazu das quälend lange Warten auf den Prozess: Manfred D. unternahm in dieser Zeit Selbstmordversuche, brauchte psychotherapeutische Behandlung. Er wusste, dass er Opfer eines Justizirrtums war: Er habe doch niemals Einfluss auf die Geschäfte der Polizei mit der hessischen Firma nehmen können, beteuerte er immer wieder. Bestellung, Abwicklung und Bezahlung sei allein Sache seiner Vorgesetzten gewesen.

Der Amtsrichter aber glaubte ihm kein Wort. Auch im Berufungsverfahren gab es anfangs keine neuen Erkenntnisse. Bis zum fünften Verhandlungstag:

Da tritt Klaus A. in den Zeugenstand, damals Kollege von Manfred D. beim MEK, heute noch in der Truppe. Er hat einen Ordner unterm Arm, „als Gedankenstütze “, sagt er. Er beantwortet freimütig alle Fragen, sucht manchmal Antworten in dem Ordner. Was das denn für Papiere seien, fragt ihn die Richterin. MEK-Unterlagen, sagt Klaus A., Kopien aller Geschäftsvorgänge zwischen der Polizei und der hessischen Firma, bei denen Manfred D. irgendwie involviert war. Die Richterin lässt sich die Unterlagen zeigen. Das ist ja toll, sagt sie, nach diesen Papieren suchen wir die ganze Zeit.

Die Verteidiger schauen rein, die Staatsanwaltschaft auch, sie lassen sich Kopien von den 237 Seiten in dem Ordner machen, und am nächsten Tag fällt das Urteil: Freispruch! Die Papiere bewiesen, dass Manfred D. gar keinen Einfluss auf die Geschäfte mit dem Unternehmer gehabt habe. Also auch nicht bestochen sein konnte – für was denn auch? Die Staatsanwaltschaft widerspricht nicht; Ende 2012 wird das Urteil rechtskräftig.

Es ist eine späte Genugtuung für Manfred D. Aber was zählt das schon? Er ist ein gebrochener Mann, sieht keine Zukunft für sich. Als der Frankfurter Rechtsanwalt Harald Nolte von dem Fall hörte, sagte er seine Hilfe zu. Für den erfahrenen Verwaltungsrechtler, der sich als Spezialist für schwierige Polizei- und Justizfälle einen Namen gemacht hat, ist klar: „Die Augsburger Polizei hat entscheidende Ermittlungsakten nicht vorgelegt. Das ist eine grob fahrlässige Nachlässigkeit – man kann aber auch sagen: schlampige Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft, die darauf zu achten hat, dass die Polizei auch entlastende Unterlagen vorlegt.“

Der Anwalt sagt auch: Es sei „ungewöhnlich selten, dass Ermittlungsunterlagen von dieser Bedeutung derart verspätet vorgelegt werden“. Wäre der Ordner gleich zu Beginn der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft übergeben worden, wäre sein Mandant vielleicht gar nicht in Haft gekommen, auf jeden Fall wäre er niemals verurteilt worden. Er wäre bis heute Polizist, bekäme seine Pension…

Die Geschichte des Ordners, der viel zu spät die Unschuld eines bereits verurteilten Polizisten bewies, ist damit aber noch nicht zu Ende erzählt. Es gibt bis heute Unstimmigkeiten und Widersprüche, deren Aufklärung die Polizei verweigert:

MEK-Mann Klaus A. antwortete damals als Zeuge vor Gericht auf die Frage, woher der Ordner stamme: Der habe am Morgen vorm Prozess auf der Fußmatte vor seiner Haustür gestanden.

Heute bietet er eine andere Version an: Ganz zu Beginn der Vorermittlungen, also Ende 2006, sei er von seiner vorgesetzten Dienststelle gebeten worden, alle MEK-Unterlagen zusammenzustellen, die Manfred D. und die hessische Firma betrafen. Es waren 237 Seiten: Die habe er für seine Abteilung kopiert, dann habe er die Originale in einen Ordner geheftet und seinen Vorgesetzten geschickt. Den Ordner mit den Kopien habe er in seine Schreibtisch-Schublade gepackt – bis er ihn zum Prozess wieder hervorholte.

Die Augsburger Polizeiführung stützt heute diese zweite Version. Und bietet auf die Frage, warum die Unterlagen nicht umgehend zu den Ermittlungsakten an die Staatsanwaltschaft gegeben wurden, eine überraschende Erklärung an:

Der Ordner sei lediglich „zur internen Prüfung des Organisationsablaufs der Dienststellenleitung“ zusammengestellt worden – um bei Bedarf „Änderungen im Beschaffungswesen vornehmen zu können und zukünftige Korruptionen zu verhindern“. Der Ermittlungsführer in Sachen Manfred D, habe die Unterlagen gar nicht gekannt, so die Polizei. In einem anderen Schreiben an das Gericht wird allerdings behauptet: Der Ordner sei „aus Sicht des Ermittlungsführers nicht relevant“ gewesen.

Am 9. Mai kommt die Angelegenheit in Saal 281 des Augsburger Landgerichts, Am Alten Einlaß 1, noch einmal zur Sprache: Rechtsanwalt Nolte fordert für Manfred D. Wiedergutmachung, verlangt Schadensersatz vom Freistaat Bayern (Az 34 O 4371/15). Der Ordner mit den Unterlagen, die zum Freispruch führten, wird allerdings nicht auf den Tisch kommen: Er ist verschwunden. Da scheinen unheimliche Kräfte zu walten: Weder im Landgericht noch bei der Staatsanwaltschaft konnten die Unterlagen, trotz allen Suchens, aufgetrieben werden.

Zum Glück aber haben die Anwälte der damals Beschuldigten ihre Unterlagen gut aufgehoben. Sie haben ihre Kopien inzwischen dem Gericht zur Verfügung gestellt.