Ab in den Keller – zum Wohlfühlen!

Der Mann lebt mit seiner Familie im rheinhessischen Geisenheim, betreibt ein kleines Bauunternehmen im hessischen Wallau – und verzaubert derzeit die Stadt Mainz mit einer Lokalität der besonderen Art: In einem uralten Gewölbekeller, den er per Zufall im Zentrum der Landeshauptstadt entdeckt hatte, baute Thorsten Kiegele Weintresore ein. Die Location ist auf dem besten Weg, eine echte Kult-Kulturstätte zu werden – mit hohem Wohlfühl-Faktor. 

Zum Vergrößern das Bild anklicken: Blick in das Vinarmarium – gedämpftes Licht und angenehme Temperaturen sorgen für Wohlfühl-Atmosphäre.

Ideale Temperaturen unter der Erde

29 Stufen führen hinab in die Tiefe. Wir befinden uns im Glut-Sommer 2018, draußen herrschen schwül-heiße 32 Grad, aber hier drinnen frischt, mit jeder Stufe, die Luft spürbar auf. Unten angekommen, ist die Last der schier unerträglichen Hitze da oben vergessen: Das Thermometer zeigt nur noch angenehme 18 Grad. „Ideal für die Weinlagerung“, schmunzelt Thorsten Kiegele (48), „und das Beste daran: Die Temperatur bleibt das ganze Jahr über weitgehend konstant, im Sommer wie im Winter. Wir brauchen weder Heiz- noch Kühlgeräte.“

Willkommen im Mainzer Vinarmarium, einem Weinkeller sprichwörtlich für jedermann (und natürlich jede Frau): Mehr als 400 Weintresore gibt es hier, jeder mit einer Tür aus schwarzen Stahlstreben abschließbar. Man kann so ein Schließfach mieten und darin seine Weinflaschen gut gesichert und perfekt temperiert lagern. Und dann kann man sich hier, wann immer es einem danach dürstet, ein Gläschen gönnen oder auch ein Fläschchen – gerne im Kreise von Freunden.

Denn so funktioniert das Vinarmarium: Jeder Mieter bekommt einen Schlüssel für seinen Weintresor und dazu eine Chipkarte, die den Zugang zum Keller ermöglicht, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Mitten im Gewölbekeller wartet ein mächtiger Tresentisch, Gläser, Wasser  und Nüsse  stehen kostenlos bereit: So lässt sich guter Wein perfekt verkosten – zum Wohle!

Unverschämt viel Glück

Thorsten und Claudia Kiegele im Herzen ihres Vinarmariums: An diesem Tresen kann rund um die Uhr Wein verkostet werden.

Wie kommt, diese Frage stellt sich natürlich, ein Unternehmer mit Baufirma („Pro Familien Haus GmbH“) im Wallauer Gewerbegebiet dazu, in der Hauptstadt der Lebensfreude eine derart ungewöhnliche Stätte des gehobenen Genusses einzurichten?

Kiegele: „Weintresore sind voll im Trend. Ich wollte aber nicht bei einem dieser stylischen Franchise-Systeme mitmachen. Ich wollte meine eigenen Ideen umsetzen. Was mir nur fehlte, war der passende Keller.“

Die einen nennen’s Zufall, andere sagen, der Mann habe einfach unverschämt viel Glück gehabt: Eines Tages bekam Kiegele von einem Bekannten eine Immobilie in Mainz angeboten. Ein Ladenlokal in bester Lage. Leider ziemlich heruntergekommen. Und schon in der Zwangsversteigerung.

„Als ich den Laden besichtigte, wollte ich gleich absagen“, sagt Kiegele. Er sei noch in den Keller gegangen: auch dort alles voll Schutt und Abfall, die Wände schlecht verputzt und quietschig-rosafarben gestrichen. „Aber dann sah ich die Ausmaße des Gewölbes. Und wusste sofort: Das ist es! Das ist genau das, was ich gesucht habe.“

Ungefähr 30 Meter lang. Rund acht Meter breit. In der Kuppel mehr als fünf Meter hoch. Ein wirklich mächtiges, prächtiges Gewölbe! Inzwischen weiß Kiegele, dass er ein historisches Schätzchen sein eigen nennen darf: Der Keller dürfte Jahrhunderte alt sein.

Das Vinarmarium in Mainz

Hier lagerte schon vor 200 Jahren Wein

Als gesichert gilt: Oben drüber stand, nach 1800, das Wohn- und Geschäftshaus des Weingroßhändlers Johann Heinrich Baron von Mappes (geb. 1757, gest.1845). Der war unter anderem Vize-Präsident der Mainzer Handelskammer, lagerte unter dem Haus seine gewaltigen Wein-Vorräte.

Lokale Geschichtsforscher, von Kiegele befragt, wollen nicht ausschließen, dass der Keller noch viel älter ist: Ende des 16. Jahrhunderts erbaute hier Kurfürst-Erzbischof Anselm Franz von Ingelheim den Ingelheimer Hof. Legte er den Keller an, den später Mappes nutzte? Man weiß es nicht. Möglich sogar, dass das Gestein des Gewölbes noch viel, viel älter ist: Es könnte aus der Zeit um 1480 stammen, als hier Benediktiner einen Stadthof erbauten.

Das, was oberirdisch in den Jahrhunderten zu sehen war, ist längst verschwunden: Nach den Angriffen auf Mainz im Februar 1945 blieben nur Grundmauern übrig. 1961 wurde das Grundstück eingeebnet und als Parkplatz genutzt.

Nur der Keller darunter, der blieb stets unversehrt.

40 Tonnen Schutt und Müll

Emmeransstrasse 34 in Mainz: Hier befindet sich der Zugang zum Vinarmarium – ziemlich unscheinbar.

Vor gerade mal 20 Jahren, 1999, wurde dann ein Mehrfamilienhaus erbaut. Emmeransstr. 34 – ein nicht gerade augenfälliger Zweckbau: oben Wohnungen, im Erdgeschoß ein Ladenlokal, das nie besonders gut lief, weshalb es in die Zwangsversteigerung kam, samt zugehörigem Gewölbekeller…

Kiegele hat den Unrat wegschaffen und den Putz von den gewaltigen Gewölbewänden abhauen lassen. „40 Tonnen haben wir rausgeholt“, sagt er. Und dann wurde reingeschleppt, was man brauchte: 12.000 hellbraune Backsteine, aus denen die Weintresore gebaut wurden. Die Wege in dem mehr als 300 Quadratmeter großen Keller wurden ausgelegt mit grau-schwarzen Bodenplatten. LED-Leuchten, die keine Wärme entwickeln und den Keller nicht unnötig aufheizen, verbreiten gedämpftes, angenehmes Licht: Wohlfühl-Atmosphäre pur im unterirdischen Tempel Bacchus‘. 

Längst ist das Vinarmarium nicht mehr nur wahr gewordener Traum eines geschäftstüchtigen Bauunternehmers, nicht nur Oase für Liebhaber köstlichen Rebensaftes. Der Gewölbekeller ist, dank tatkräftiger Hilfe von Kiegeles Ehefrau Claudia und den drei Söhnen, zu einem beliebten Kultur-Treffpunkt geworden. Im Erdgeschoß wurden Lounge und Konferenzraum eingerichtet – sie lassen sich umgruppieren zur gemütlichen Lokalität. Regelmäßig finden Autorenlesungen statt, Musikabende, Talkrunden mit lokalen Prominenten… Und immer wieder gibt es, natürlich, Weinproben von Winzern der Region.

„Ich wollte einen Ort schaffen, an dem sich Menschen treffen und austauschen– und vor allem wohlfühlen können“, sagt Kiegele. Keine Frage: Das ist ihm vollauf gelungen.

INFO
Vinarmarium ist ein Kunstwort, es enthält die lateinischen Vokabeln „vinum“ (der Wein) und „armarium“ (der Schrank, Bibliotheksraum). Mehr als 400 Tresore wurden in dem riesigen Gewölbekeller untergebracht: Die kleinen fassen 88 Flaschen, kosten 79 Euro Monatsmiete; dazu gibt’s einige begehbare Weinschränke für mehr als 2000 Flaschen, der Preis ist Diskretionssache. Mehr über das Vinarmarium im Internet unter www.vinarmarium.de; Infos über Veranstaltungen unter www.facebook.com/vinarmarium.

Der Traum der alten Männer

In diesem Haus atmet alles Geschichte: Die grauen Steine in den Wänden. Die derben braunen Balken dazwischen. Die ausgetretenen Natursteine im Fußboden. Da braucht’s nur wenig Phantasie, und die Vergangenheit lebt wieder auf:

Der Hattsteiner Hof in der Herrnhäuser Straße 1, inmitten von Wallaus historischem Ortskern, vor mehr als 500 Jahren erstmals urkundlich erwähnt und in heutiger Form vor rund 300 Jahren erbaut, ist längst nicht nur restaurierte Fassade. Hier, in der hinteren Scheune, findet sich ein weitgehend unbekanntes museales Schatzkästchen, das im weiten Umkreis seinesgleichen sucht.

Eine Gruppe ehemaliger Drucker und Schriftsetzer um das Wallauer Urgestein Erwin Born betreibt in dem historischen Gemäuer eine altertümliche Druckerei – mit Arbeitsmaterialien und Maschinen, die heutzutage so selten zu sehen sind wie Plattenspieler und Telefonzellen. „Hattstein-Offizin“ sagen sie, wie Buchdrucker im späten Mittelalter ihren Schaffensraum bezeichneten. Am Sonntag wird dieses außergewöhnliche Mini-Museum seine Pforten öffnen: Am 18. Juni, am Tag der offenen Höfe und Kunst in Wallau, kann es besichtigt werden.

Nicht nur das uralte Haus und die historischen Gerätschaften sind das Besondere. Auch die „Macher“ sind bemerkenswert: Erwin Born, Eigentümer des Hattsteiner Hofes und früher Besitzer einer Druckerei direkt nebenan, ist jüngst immerhin schon 80 Jahre alt geworden. Anton „Toni“ Baumann, der erfahrene Druckermeister, ist 81 Jahre alt (und, das nur am Rande, noch immer tagtäglich mit seiner Druckerei-Zubehör-Firma im Einsatz). Hermann Schmelz aus Hofheim- Stadt, dritter im zentralen Bunde, ist mit bald 84 Jahren der Senior. Seine feingliedrigen Finger verraten, dass nicht das etwas derbere Gewerbe der Drucker seins war: Er ist Schriftsetzer, „das waren immer die Intelligenten“, sagt er und lacht verschmitzt.

Um dieses Senioren-Trio gibt es eine Handvoll Männer, fast alle im betagten Rentneralter: Sie teilen die Leidenschaft für ihren Beruf, der längst ausgestorben ist, sie haben darüber hinaus ein gemeinsames Betätigungsfeld gefunden, das den Alltag des Alters ausfüllt. Ihr Job war einer, der die Schnelligkeit und Hektik der heutigen Berufswelt weder kannte noch benötigt: Wenn der Hermann Bleibuchstabe für Bleibuchstabe auf eine längliche Metallschiene setzt und zu Worten zusammenschiebt, die einzelne Letter kann groß sein wie eine Streichholzschachtel oder auch so klein, dass man sie nur mit einer Pinzette anfassen kann: Das dauert halt. Er zeigt auf eine Buchstaben- platte, die dunnemals angelegt wurde, um die Seite eines Bahnfahr- plans drucken zu können. „Das waren vier Wochen Arbeit“, sagt er. Vier Wochen für nur diese eine Seite? Er nickt: „So war das eben.“

So war das eben: Hier finden sich noch Schränke voll Schubladen, die wiederum in kleine Felder aufgeteilt wurden: für jede Schriftart eine Schublade, für jeden Buchstaben ein Feld. Es sind Setzkästen, die heute auf Flohmärkten als Zeugnis früherer Handwerkskunst gefragt sind: Sie wurden nicht in Leicht- und Billigbauweise angefertigt wie die Möbel im nahen Ikea-Geschäft. Sie stammen aus Schreinereien, jede einzelne hochwertige Handarbeit, eben deshalb haben sie Jahrzehnte überdauert und sind noch immer in ihrem ursprünglichen Einsatz.

Das Schmuckstück des kleinen Privatmuseums, der Stolz der alten Männer: Das sind natürlich die schweren Maschinen. Die Stoppzy- linder-Schnellpresse, erbaut 1933 in der Maschinenfabrik Johannisberg in Geisenheim/Rheingau, so groß wie drei, vier Schreibtische hintereinander und so schwer, dass unter der Scheune ein Extra-Betonfundament angelegt werden musste. Daneben der Bostontiegel, erbaut 1928 in Leipzig, und dann der etwas jüngere Heidelberger Tiegel, immerhin jetzt auch schon mehr als 50 Jahre alt.

Es sind extrem schwergewichtige Apparaturen, die aber zugleich höchst filigran wirken und äußerst feinfühlig eingestellt werden müssen, damit ein perfekter Druck gelingt. Wenn der Erwin oder der Toni, der Hermann oder all die andren Männer die Maschinen sehen, sie anfassen und manchmal auch sachte streicheln, dann vermeint man bei ihnen Hochachtung vor diesen robust-stählernen Ungetümen zu erahnen, denen doch eine ganz andere Schaffenskraft innewohnt als einem kalten, computer-gesteuerten Laserdrucker. Und wehe, einer der Männer verlässt eine der Maschinen, ohne sie zuvor blitzblank gesäubert und alle Stellschrauben wieder ordnungsgemäß zurückgedreht zu haben: Dann kann der Toni richtig fuchtig wer-
den, man weiß nicht so recht, ob er ernsthaft grantig ist oder nur schandudelt. Auf alle Fälle wirkt’s.

Einen Traum haben die alten Männer noch: Dass, wenn es mit ihnen zu Ende geht, nicht auch ihr Museum stirbt. Dass sich einer findet, der ihren Beruf so liebt wie sie, der Lust und Leidenschaft am Buchstabe-für-Buchstabe-Setzen, an Druckerschwärze und an ihren Maschinen findet. „Einer, der einfach weitermacht, wie’s früher war – den suchen wir“, sagt Erwin Born. Die anderen nicken nur. Es sieht nicht so aus, als ob sie wirklich daran glauben, dass ihnen dieses letzte Glück vergönnt ist. Aber manchmal sollen Träume ja wirklich wahr werden…

Erschienen in der FNP am 16.06.2017